"Du kannst dich gegen keinen Satz wehren!" - Kaspar

„Ich… möchte… ein solcher… werden, wie einmal… ein anderer… gewesen ist?“ – „Du kannst dich gegen keinen Satz wehren!“ - „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist!“
Unsicherheit und Verzweiflung im erstarrten Gesicht. Die Worte gehen immer leichter über die Lippen und ein gewisses Maß an Entschlossenheit mischt sich unter sie. Doch sie währt nur kurz. Prompt werden seine Hoffnungen zerstört, seine Ohnmacht zerschmetternd demonstriert. Im Kampf mit sich selbst kann er nicht siegen. Er ist wehrlos. Die Sprache foltert ihn und zwingt ihn in die Knie.
Was absurd, regelrecht unmöglich erscheint, beruht teilweise auf wahren Begebenheiten. Wahre Begebenheiten bezogen auf die historische Figur Kaspar Hauser, die viele Jahre zurückliegen und mittels eines Theaterstücks, zusammengesetzt aus dem Roman „Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens“ (1908) von Jakob Wassermann sowie dem Drama „Kaspar“ (1967) von Peter Handke, Einzug auf die Bühne des Landrat-Lucas-Gymnasiums fanden. Das Stück „Kaspar“ thematisiert den menschlichen Spracherwerb und verdeutlicht, welch immensen Einfluss Sprache auf den Menschen nimmt. Dieser stellt sich ambivalent dar: Sprechfolterung stand Identitätsfindung, Befreiung stand Zwang gegenüber. Das Stück zeichnete sich aus durch ein Wechselspiel zwischen Wassermann-Szenen, die die Rahmenhandlung darstellten, und Handke-Szenen, die Einblick in das Innere des Protagonisten, Kaspar, gewährten.
Wir schreiben das Jahr 1828 in Nürnberg. Ein mysteriöser Junge taucht in der Öffentlichkeit der biedermeierlichen Gesellschaft auf. Er spricht kaum, ist unzivilisiert und zurückgeblieben – ein Individuum, dem es an Gesellschaftskonformität mangelt. Die Nürnberger Bevölkerung gafft den Jungen an wie ein Tier, bis Gymnasialprofessor Daumer sich dem Findling entgegen dem Willen seiner eigenen Familie erbarmt und ihn bei sich aufnimmt. Kaspar macht Fortschritte, er erfährt eine Erziehung und erwirbt Sprachfertigkeiten. Auf diese Weise erhält Kaspar die Möglichkeit, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden, das Chaos zu ordnen, sich selbst zu finden. Durch einen packenden Kampf mit sich selbst entwickelt er sich. Er wird zum Menschen; dabei vom Individuum zum Massenmensch und steuert auf eine Katastrophe zu.
Das ausgesprochen minimalistische Bühnenbild sowie der begrenzte Einsatz von Requisiten rückten eines in beeindruckender Weise in den Fokus: Das immense schauspielerische Talent und Können der Schülerinnen und Schüler des Literaturkurses der Stufe Q1 unter der Leitung von Herrn Halbach und Herrn Wintersohl. Auf höchst authentische Weise wurden die Charaktere sowie die Bühne gänzlich ausgefüllt. Groß geschrieben wurden dabei insbesondere Emotionen. Die emotionsgeladene Vorstellung kreierte eine verstörende, bedrohliche Atmosphäre. Tränen flossen, Blicke durchdrangen einen jeden und riefen kaum enden wollendes Unbehagen hervor.
Gelungene Wechsel zwischen laut und leise sowie das Spiel mit farbigem Licht unterstützten die Stimmung und verstärkten die Wirkung des Stücks. Die Inszenierung zog den Zuschauer in den Bann und ließ ihn teilhaben an dem Inneren Kaspar Hausers, der einerseits verzweifelt und unbeholfen, andererseits gefährlich und monströs erscheint. Das Publikum vermochte sich dem Geschehen auf der in seiner Mitte befindlichen Bühne, die phasenweise auf den gesamten Raum ausgeweitet wurde, nur schwerlich zu entziehen und wurde hineingezogen in die aufreibenden Konflikte, denen Kaspar sich zu stellen hatte. Zurückgelassen wurde das Publikum der originellen Theatervorstellung begeistert, doch gleichermaßen nachdenklich. Kaspar Hausers Inneres wurde nach außen gekehrt, was in einer gewissen Verworrenheit seinen Ausdruck fand; das Stück hinterließ die Zuschauer so mit gespaltenen Gefühlen. Es hinterließ sie gewissermaßen belehrt hinsichtlich der Macht der Sprache und der Hürde der Selbstfindung sowie dem Erringen gesellschaftlicher Akzeptanz.
Dass sich das Stück „einer eindeutigen Interpretation entzieht“ sei ganz gezielt gewesen, so Halbach. Das Wesen des Stücks habe den Schauspielerinnen und Schauspielern „möglichst große Freiheit hinsichtlich der Textvorlage“ gelassen, sodass die Szenen von den Beteiligten „aus freien Improvisationen frei entwickelt“ worden seien; ebenso frei entwickelt wie die individuellen Interpretationen des Stücks in den Zuschauerreihen. Auch die Behandlung der relevanten Themen Sprache, Sprachentwicklung und Entwicklung des sozialen Wesens habe eine besondere Herausforderung dargestellt – noch verstärkt durch das minimalistische Bühnenbild, das dazu diente, „den Blick auf Wichtiges“ nicht zu verstellen, sondern die gebündelte Aufmerksamkeit auf die „schauspielerischen Ausdrucksweisen“ zu fokussieren. Man sei sehr zufrieden – zu Recht, auf eine sehr gelungene Inszenierung.
[Sarah Dersarkissian. Schüler-Onlineredaktion]