Das Unvorstellbare näherrücken

Leverkusen. 76 Jahre nach der Zerstörung der Opladener Synagoge und der Ermordung von Juden haben die Jugendlichen mit bewegenden Eindrücken an Einzelschicksale erinnert. Viele würden vergessen, was damals passiert ist, sagten sie. Von Tobias Brücker, Christian Buhl und Jan-Lukas Tomczyk
Wie würden wir reagieren, wenn wir uns von unseren Eltern verabschieden müssten, vielleicht für immer? Die Schüler des Landrat-Lucas-Gymnasiums und der Montanus-Realschule haben sich anlässlich des 76. Jahrestags der Reichspogromnacht mit dieser Frage beschäftigt. Kinder mussten damals vor den Nationalsozialisten nach England fliehen. Ohne Eltern und ohne die Gewissheit, die Familie in Deutschland jemals wiederzusehen. Die Lucas- und Montanusschüler gaben gestern bei der Gedenkstunde am Platz der Synagoge in Opladen bewegende Einblicke in die Geschichten der Opfer.
Mit Oberbürgermeister Reinhard Buchhorn, Stadtdechant Heinz-Peter Teller sowie Rabbiner Josef Gruzmann und Imam Ibrahim Alinmaz waren die Schüler zu dem Ort gekommen, an dem die Judenverfolgung in Leverkusen seinen Anfang genommen hat.
Nationalsozialisten haben 1938 die Opladener Synagoge niedergebrannt und zu Hetzjagden aufgerufen. Mit dem Start der Novemberereignisse hätten die Juden keine Zukunft mehr in Deutschland gehabt. "Viele vergessen, was damals passiert ist", sagte Michele Cicco vom Landrat-Lucas Gymnasium.
Auch das Leben hunderter jüdischer Kinder in Köln war in Gefahr.
Sie besuchten damals die Jawne-Schule in der Domstadt, ein jüdisches Gymnasium. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wurde es gefährlich für die jungen Juden. Der damalige Leiter Dr. Erich Klibansky plante deshalb, die Schule nach England umzusiedeln. "Die Eltern wurden vor die Frage gestellt, ob sie ihre Kinder nach England gehen lassen, wo sie geschützt waren, oder bei ihnen lassen", berichtete ein Schüler gestern. Denn für die Eltern und Geschwister war in Großbritannien kein Platz vorgesehen.
Vor allem das Schicksal einer jüdischen Familie aus Köln bewegte die Zuhörer. Die Reichensteins hatten sich 1938 schweren Herzens entschieden, ihren Sohn Siggy nach Liverpool in Sicherheit zu bringen. Der damals 16-jährige Sprössling habe seine Schwester und seine Eltern danach nie wiedergesehen. Seine Mutter und seine Schwester wurden nach Riga und dann nach Stutthof deportiert und ermordet, sein Vater starb vorher in Köln. "Wir wollen heute den Opfern die Würde und Wertschätzung wieder geben, die ihnen damals genommen wurde", sagten die Schüler. Für die Jugendlichen sei es während der Vorbereitung schwer gewesen, sich in die Situation der jüdischen Kinder hineinzuversetzen. "Ich finde es aber gut, weil es mal ein anderer Zugang ist. Sonst hat man bei diesem Thema viel mit Zahlen zu tun", berichtet Gymnasiast Joost Hase.
Während der Gedenkfeier versuchte ein Mann, den Vortrag zu stören, indem er auffallend lässig vor der Gruppe den Platz überquerte. Die Schüler ließen sich davon aber nicht verunsichern - im Gegenteil: Mit Nachdruck sagten sie abschließend in Richtung der vielen Zuhörer: "Wir sind nicht dafür verantwortlich, was damals passiert ist. Aber wir sind verantwortlich dafür, dass so etwas in Zukunft nicht mehr passiert.
[Rheinische Post, 11.11.2014]